Ich arbeite an einem Spin-off zur Reihe Land der Clans und Hexen. Konkret geht es um die Hexe Eire und den Werwolf Zayne, die wir im zweiten Teil Let it Begin kennen lernen.

Als ich den Roman geschrieben habe, sind diese beiden Charaktere auffällig geheimnisvoll für mich geworden 😀 Ich hatte es wirklich nicht geplant, aber ich wollte ihre Vorgeschichte erfahren. Also habe ich das Spin-off begonnen.

Hier kannst du die ersten Kapitel lesen. („Hexenbiest“ wird nicht der Werktitel werden, sondern wurde nur für diesen Beitrag so gewählt.)

Hinweis: Bisher liegt nur eine Rohfassung des Romans vor. Auch der Text in diesem Beitrag ist noch kaum überarbeitet. Fehler sind bestimmt vorhanden und Abläufe der Szenen können sich später noch ändern. Trotzdem viel Spaß beim Lesen!

Inhalt:

Genre und Gesamtstimmung

Eire ist ein heiterer Charakter, demnach ist die Stimmung des Buches häufig ebenso heiter. Gleichzeitig spielt die Geschichte im Clanland (wir treffen also auf Werwölfe und gewissenlose Hexen) und Zayne hat eine dunkle Vergangenheit. Daher gibt es ein paar heftige, brutale und auch traurige Stellen.

Die Liebesbeziehung ist nicht düster und nicht toxisch. Vielmehr erlebt ihr eine Art Instant Love bzw. Instant Lust. Meiner Meinung nach wird es prickelnder als in Chias und Wodans Geschichte, nicht aber so explizit wie bei Valshurags Rückkehr. Also es gibt heißen, atemberaubenden, verzweifelten Sex 😉 (Aber auch ein bissl Plot lol)

Vorläufiger Klappentext

Wenn eine kurvige Hexe auf einen hungrigen Werwolf trifft, wird es gefährlich – und auch sinnlich.

An einem warmen Sommertag finden wir sie: verletzt und dem Tode nahe. Fasziniert von ihr nehmen wir sie mit zu uns, versorgen ihre Wunden, füttern sie. Doch unser Wolf hat so lange die Führung übernommen, dass wir nicht wissen, wie wir mit ihr umgehen sollen. Sie … redet mit uns? Was will sie? Warum lässt sie uns nicht einfach fühlen? Berühren und sie erkunden?

Ganz ohne Magie zieht die Hexe uns in ihren Bann. Und weil wir nicht teilen können, wird niemand sie uns wegnehmen. Niemand. Vor allem ihre Feinde nicht.

Auch wenn sie nicht ahnt, dass wir selbst die größte Gefahr für sie sind.

– 1 –

Biest

Wir rochen etwas. Ungewöhnlich. Gehörte nicht hierher.

Verlockend.

Interessiert folgten wir der Spur. Die Blätter der Büsche streichelten unser Fell, während wir durch den Wald streiften, unsere Schnauze zu Boden hielten, dann in die Luft, immer auf der Suche nach einem Zeichen dieses eigenartigen Dufts. Sobald wir ihn entdeckten, änderten wir die Richtung und ließen uns von nichts anderem ablenken – selbst nicht von dem Kaninchen, das wir witterten. Oder dem Reh, das nur wenige Meter entfernt von uns graste. Unser Bauch war voll, daher drängte es uns nicht, nach Futter zu suchen. Aber dieser neue Geruch weckte einen Hunger in uns, den wir stillen mussten.

Und nur er war dazu in der Lage.

Trotz der Sonnenstrahlen schwiegen die Vögel und schauten von den Baumkronen auf uns hinab. Weil wir ein Jäger waren, machten wir ihnen Angst. Unverständlich, da wir sie niemals gerissen hatten. Ihre zarten Körper waren nur Häppchen für uns, nicht erstrebenswert, Energie in ihre Verfolgung zu investieren. Gleichzeitig genossen wir die Furcht, die die Umgebung ausstrahlte. Wir brauchten sie. Sie bedeutete Sicherheit. Kein Angriff.

Wir wussten nicht mehr, warum genau dieses Gefühl so bedeutsam war. Unser Mensch hatte es erstrebt. Doch seit geraumer Zeit war er still in unserem Kopf. Vielleicht war er schwach.

Wir knurrten. Wir waren nicht schwach. Wir waren das, was anderen das Fürchten lehrte.

In der Ferne erspähten wir endlich unser Ziel. Unser Tempo beschleunigte sich. Tapp, tapp, tapp. Unsere Pfoten jagten über den Boden und blieben dabei geräuschlos. Andere Gerüche mischten sich in die Verlockung der Spur. Schweiß. Männer.

Tod.

Wir kauerten hinter einem Gebüsch und lugten durch die Blätter. Drei Menschen lagen auf dem Boden, regten sich nicht. Unwillkürlich stieg ein Fauchen in unserer Kehle auf. Die Männer stanken. Gefahr, flüsterte unser Instinkt. Töte sie.

Wir schnüffelten genauer. Zu spät. Sie waren bereits tot. Der Gestank rührte von ihnen. Unser Kopf ruckte zur Seite, zum dritten Leib.

Nicht tot. Lebte.

Erleichterung durchflutete uns

Warum?, flüsterte unser Mensch.

Wir schüttelten ihn aus unseren Gedanken. Sollte ruhig sein, genauso wie die letzten Tage und Nächte! Wir wollten erkunden. Diesem Duft nachspüren.

Behutsam näherten wir uns. Mit jedem Schritt intensivierte sich das Verlangen in uns, der Hunger. Wir sahen eine Frau mit Schnee-Haaren und einer Haut, die beinahe ebenso hell war. Wir sahen auch leckere Rundungen. Breite Hüften. Köstliches Fleisch überall. Weiblich. So weiblich.

Unser Blick fiel auf ihre Brüste und Speichel bildete sich in unserem Mund.

Wir wollten sie haben.

Bei ihr angekommen verharrten wir jedoch. Ihr betörender Duft hatte den anderen überdeckt und in den Hintergrund unseres Verstandes gerückt.

Den des Blutes.

Wir entdeckten Verletzungen in ihrem Gesicht, auf ihren Armen, ihren Beinen. Auch darunter? Ließ sich nicht sagen, da eine seltsame zweite Haut ihren Körper bedeckte, ihre Farbe so dunkel wie ein Teich in der Abenddämmerung.

Kleid, wisperte unser Mensch.

Still!

Wir streckten unsere Kralle nach ihr aus und fuhren über dieses … Kleid. Rau. Gefiel uns nicht. Also wendeten wir uns ihrer Haut zu. Weich wie das Fell eines Welpen. Wie einer Wölfin, wenn sie sich an uns schmiegte. Das gefiel uns mehr.

Nicht aber die Wunden.

Mit einem Knurren wandten wir uns den Männern zu. Hatten sie das getan? Unser Weibchen verletzt? Denn das war sie von diesem Tag an: unser Weibchen. Kein Zweifel. Sie gefiel uns zu sehr, um sie je wieder gehen zu lassen.

Sie versprach eine zweite Chance auf Familie.

Unser Mensch klopfte gegen unseren Verstand, hielt uns an, nach unten zu schauen. Ihm gefiel nicht, wie das Kleid nach oben gerutscht war und ihre Beine entblößte, tiefe Kratzer von Klauen auf ihnen. Die Verletzungen durchkreuzten seltsame schwarze Zeichen auf der Innenseite ihrer Schenkel. Kreise mit Strichen und Kreuzen.

Unbändiger Zorn bemächtigte sich unser, als Vorstellungen unseres Menschen vor unseren Augen spukten. Hatten die anderen Männer sie angefasst? Ihr Leid getan?

Wie von selbst bohrte unsere Schnauze sich zwischen ihre Schenkel und wir nahmen einen Atemzug. Keine Spur von ihnen. Unversehrt.

Aber ihr Duft war dort am stärksten und unser Schwanz schwellte an. Wir wollten sie nehmen. So betörend. Unser Weibchen.

Wir wurden härter und ritzten ihre zweite Haut auf. Ihre prallen Brüste sprangen uns entgegen und unser Hunger erstarkte.

Wir wollten sie fressen.

Nicht jetzt, sagte unser Mensch, seine Stimme schwach in unserem Kopf. Daher wollten wir sie ignorieren. Unsere Klauen fuhren über ihren Körper.

Nicht. Sie ist bewusstlos.

Aber sie gehört uns. Wir wollen sie!

Nicht, solange sie schläft. Nicht, solange sie verletzt ist.

Verletzt. Unser vor Lust vernebelter Verstand klärte sich. Wir strichen über ihre Wange, fuhren eine Spur über ihre angeschwollene Haut hinunter zu ihrem Hals. Noch immer regte sich unsere Weibchen kein Stück.

Wir müssen ihre Verletzungen behandeln. Unser Mensch klang drängend

Auch wenn er schwach war, hatte er recht. In unserem Bau konnten wir ihre Wunden lecken und sie füttern. Wenn sie wieder bei Kräften war, könnten wir sie zu der unseren machen.

Unser Weibchen seufzte und unser ganzer Fokus richtete sich auf sie. Wir beugten uns über sie, wollten jede Einzelheit ihrer Bewegungen mitbekommen. Sie öffnete die Augen. Farbe wie Blume, dachten wir. Selten. Kostbar.

Einzigartig.

„Du …“, wisperte sie und ihre Stimme drang durch unseren gesamten Körper wie eine Klaue. Ihre Mundwinkel hoben sich und sie umfasste unser Gesicht. „Du wirst mir helfen, ja?“

Wir werden alles für dich tun.

Ihr Körper erschlaffte und wir hoben sie in unsere Arme.

Bring sie in Sicherheit, befahl unser Mensch.

Wir stimmten ihm zu. Zurück zu unserem Bau. Zurück in den Schutz, den er uns bot. Dort würden wir uns um sie kümmern.

Wir gaben den toten Männern ein paar Tritte, bis wir zufrieden waren. Unser Weibchen musste sie umgebracht haben, da Spuren von Feuer an ihnen klebten und ihre Arme verrenkt waren.

Das passierte, wenn man sich mit einer Hexe anlegte.

Wir rannten los, unsere Beute sicher an unserer Brust.

– 2 –

Eire

Vor einem Tag

„Deine Zeit bei uns ist vorbei.“

Die Oberste Schwester betrachtete mich, als wäre ich eine Kakerlake. Ihre roten Haare waren zu einer komplizieren Flechtfrisur zusammengebunden und auf ihrem Kopf getürmt. Nur an ihren Schläfen wellten sich Strähnen bis zu ihrem Kinn hinab. Auf ihrer rechten Schulter saß ihr Haustier, ein Rabe ohne Namen. Nun, wahrscheinlich hatte er einen, doch sie hatte ihn niemals preisgegeben. Seine schwarzen Augen waren wie ihre auf mich gerichtet. Manche behaupteten, dass er einem die Seele stehlen konnte, wenn man zu lange in ihre Finsternis blickte. Aber war so etwas wirklich möglich?

Das ärgerliche Räuspern der Obersten Schwester riss mich aus meinen Überlegungen.

Bring sie um.

„Es tu mir leid, ich verstehe nicht, was …“

„Mach dich nicht lächerlich, Eire. Du hast mich ganz genau verstanden. Ab sofort wirst du kein Mitglied meiner Schule mehr sein. So jemanden wie dich brauche ich nicht.“

Ich lächelte, um sie für mich zu erweichen. Wieder versagt, fuhr es mir durch den Kopf. „Wenn Ihr mir die genauen Gründe für diese Entscheidung nennen könntet, dann wäre es mir möglich, auf meine Defizite einzugehen und an ihnen zu arbeiten. Eventuell finden wir gemeinsam eine Lösung.“

Das Gesicht der Obersten Schwester verzog sich voller Verachtung. „Hör dich an. Wie erbärmlich du klingst. Genauso erbärmlich wie deine Magie.“ Ein Haar löste sich aus dem Flechtwerk ihrer Frisur und zerstörte die harte Arbeit, die sie sich heute Morgen sicherlich damit gemacht hatte. Wobei … Eine Oberste Schwester befasste sich nicht mit solchen Belanglosigkeiten, oder? Bestimmt war ein Mädchen für ihre Haare zuständig. Die Mächtigen griffen immer auf solche Hilfestellungen zurück. Deshalb waren sie auch so mächtig.

Ähm, das ergab keinen Sinn.

„Eire.“

„Wie bitte?“

„Du hast heute Zeit, deine Sache zu packen. Spätestens morgen früh will ich dich hier nicht mehr sehen.“

Ich raffte mich auf und streckte meinen Rücken durch, damit ich entschlossen wirkte. „Oberste Schwester, ich verstehe, dass ich mich bisher noch nicht beweisen konnte. Doch wenn Ihr mir nur noch etwas Zeit gebt, könnte ich …“

„Nein, das könntest du nicht. Du weißt es. Ich weiß es. Alle wissen es.“ Ihre Miene war hart wie Stahl. „Die vierte Schule und du hast keinerlei Fortschritte gemacht. Nicht einen einzigen. Es bleibt die Realität, dass deine Magie schwach ist und sich niemals weiterentwickeln wird. Kein Ritual wird dies ändern können“, warf sie zügig ein, als sie meinen Mund öffnen sah. Sie hatte wohl meine Gedanken gelesen. Konnte sie das? Ich versuchte, meinen Kopf zu leeren. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. „Du bist die schwächste Hexe, der ich je in meinem Leben begegnet bin.“

Dieser Satz stach in mein Herz wie eine scharfe Klinge, das musste ich zugeben. Auch wenn ich solche oder ähnliche Aussagen bereit öfter in meinem Leben gehört hatte. Meine erste Schule, die meiner Familie Lucien gehörte, hatte mich mit zehn Jahren aufgeben – genau ein Jahr, nachdem meine Magie erwacht war. Danach waren vier Jahre in der Schule der Maulden gefolgt. Sie waren optimistisch gewesen, hatten etwas in mir gesehen und angestrebt, Blockaden zu lösen.

Ergebnislos. Mit Kusshänden hatten sie mich an die nächste Schule weitergereicht: die der Familie Primlen. Sie hatten mich einige der brutalsten Jahre meines Lebens unterworfen, denn sie gebrauchten Strafen und Züchtigungen, um ihre Schüler zu mächtigen Hexen erstarken zu lassen.

Ich dachte nicht gerne an diese Zeit zurück. Eigentlich hatte ich das meiste davon verdrängt und irgendwo in einen Hirnwinkel gesperrt, den ich niemals antastete. Erst mit dem Beginn meiner Lehren bei der Schule der Ghaulder, der Mächtigsten aller Familien, setzten meine Erinnerungen wieder ein.

Nun war ich fünfundzwanzig und damit die Älteste, die noch in den Mauern der Schule lebte. Normalerweise wurden wir mit achtzehn selbständig und zogen in die Welt hinaus, wobei die meisten sich in den umliegenden Kolonien ansiedelten. Manche dagegen ließen sich weitab der Heimat nieder, im Gebiet der Clans und Wölfe, und trieben Handel mit ihnen. Dabei blieben wir stets unseren Schulen treu und gehorchten, wenn die Anführer der Familien riefen.

Wie schnell die Zeit verging.

„Du hörst mir erneut nicht zu.“ Die schwarzen, krallenartigen Fingernägel der Obersten Schwester trommelten auf ihren Schreibtisch. „Dein Geist zuckt in alle Richtungen, ist abgelenkt. Niemand hat dich Fleiß und Disziplin gelehrt.“

„Ich bitte um Erlaubnis, dieser Einschätzung widersprechen zu können. An meinem Durchhaltevermögen hat es nie gemangelt.“

Meine Worte gefielen der Obersten Schwerster nicht. „Bücher Abend für Abend auswendig zu lernen, ist keine Kunst. Was bringt dir diese Anstrengung, wenn du die Inhalte nicht in die Praxis umsetzen kannst? Und sprich nicht so, als kämest du aus der Stadt. Das ist selbst für dich unter deiner Würde.“

„Vielleicht ist die Stadt der einzige Ort, der mich jetzt noch aufnehmen wird.“

Das ließ sie innehalten. Hatte ich erneut etwas Falsches gesagt? „Eine Hexe wird niemals in ihren Mauern leben können. Sie würde es auch niemals wollen.“

Nur eine wie du, die keine wirkliche ist, würde das, hörte ich ungesagt. „Keine Schule wird mich aufnehmen. Ihr wart die letzte, die sich an mir versuchen wollte.“

In ihrer Miene konnte ich keine Emotionen lesen. „Deine Eltern haben geschrieben.“

Meine Stimmung hellte sich auf. Seitdem ich der Familie Ghaulder übergeben worden war, hatte ich nur noch wenig Kontakt zu ihnen. Einzig Briefe schrieben wir uns. Leider waren sie mit jedem Jahr rarer geworden. Wann war der letzte angekommen? Vor zehn Monaten? Zumindest bei ihnen könnte ich Zufl…

„Sie haben dich offiziell verstoßen.“

Mein Herz setzte aus. Verstoßen bedeutete, keinen Schutz zu haben. Keine Möglichkeit zu bekommen, meine Wunden zu lecken und einen neuen Lebensweg zu beschreiten.

Keine Schule. Keine Eltern.

„Bin ich damit also eine Freie?“, flüsterte ich.

„Wenigsten das verstehst du.“ Sie hob eine Augenbraue.

„Die Werwölfe werden mich zerfleischen.“ Die Clans und die Hexen tolerierten zwar einander. Das hieß jedoch nicht, dass hier und da nicht eine Hexe oder ein Wolf umgebracht wurden. Kollateralschaden, nannte man das. Solange nicht übertrieben wurde, blieb unser Friedenspakt bestehen. Als einzelne Hexe ohne Familie wäre ich eine Beute, bei deren Ableben niemand mit der Wimper zucken würde. Und wenn mich die Wildlinge – Werwölfe ohne Clan – erwischten, wäre es einfach Pech. Sie unterwarfen sich keinen Regeln.

Die andere Augenbraue der Obersten Schwester kroch nach oben. „Nun, dann wirst du wohl an deiner Magie arbeiten müssen, um zu überleben. Unser Problem wird es nicht mehr sein.“ Ihr Rabe gab einen Laut von sich, der einem Glucksen ähnelte. Sie kraulte seinen Kopf. „Schau nicht so. Es könnte alles schlimmer sein, denn früher hätten wir eine wie dich geopfert. Doch wir haben Gnade gelernt.“

„Die Familie Primlen nicht. Sie opfert noch heute schwache Schwestern“, sagte ich. „Und auch andere pflegen diesen Brauch, wie ich gehört habe. Aber es sind nur Gerüchte, von daher ist der Wahrheitsgehalt anzuzweifeln.“

Die Oberste Schwester nahm mich wie ein Raubtier ins Visier. Tatsächlich war sie diejenige, die sich gern dieser Opfer für ihre Rituale bediente – so erzählte man sich. „Du bist und bleibst mir ein Rätsel, Eire.“ Sie erhob sich vom Stuhl und kam mit langsamen Schritten näher. Ich blieb sitzen, ahnte aber, dass ich wachsam sein müsste. „So schwach. So erbärmlich. Und doch hast du keine Angst, diese Worte vor mir auszusprechen. Immer nahe daran, die Grenze zur Respektlosigkeit zu überschreiten, und doch nie ein Wort zu fiel, das mir erlaubt, dir dein kleines, zuckendes Herz aus der Brust zu reißen.“ Sie neigte den Kopf, ihre Augen verdunkelten sich. Ihre Magie flüsterte nun zu ihr. „Warum haben meine anderen Schwestern dich so lange leben lassen? Warum habe ich es? Als hätten wir alle auf etwas gewartet …“ Sie streckte ihre Fingernägel nach meinem Gesicht aus.

Das war der Moment, in dem ich von meinem Stuhl aufsprang und ihren Krallen auswich. „Sicherlich, weil Ihr erwartet und gehofft habt, dass ich stark werde. Doch ich bin schwach geblieben. Eine schwache Hexe, die euch nichts nutzt.“

Sie zwinkerte und ihre Augen klärten sich wieder. „Geh jetzt. Ich will dich nicht mehr sehen.“

„Wie Ihr wünscht, Oberste Schwester.“ Ich verneigte mich. „Ich danke Euch, dass Ihr mir für all die Jahre Schutz gewährt habt.“

Sie wedelte mit ihrer Hand. „Eine Investition ohne Gewinn. Äußerst bedauerlich.“

Erneut senkte ich meinen Kopf und verließ ihr Zimmer, ihr Blick und der ihres Raben spürbar in meinem Nacken. Vor ihrer Tür blieb ich einen Moment stehen und atmete durch.

Das war’s. Ab jetzt war ich auf mich allein gestellt. Mein gesamtes Leben hatte ich damit gerechnet, es gefürchtet, alles getan, um dieses Schicksal zu verhindern. Doch es hatte mich eingeholt. Vielleicht, weil es stets unausweichlich gewesen war.

Ich hatte es nur herausgezögert.

Ich ging zu meinem Zimmer, das ich mir mit drei weiteren Schwestern teilte. Sie waren fort, irgendwo im Unterricht, der mir nun verwehrt bliebe. Sie hatten mich bereits vor vielen Monaten abgehängt, sinnierte ich. Mit jedem Tag hatte ich den Respekt in ihren Augen schwinden sehen, je mehr sie begriffen, dass sie trotz ihres jungen Alters stärker als ich waren. Jeden Tag war die Verachtung in ihnen gewachsen.

„Warum warst du bei der Obersten Schwester?“

Ich zuckte zusammen. Ysander hatte geräuschlos das Zimmer betreten und lehnte mit dem Rücken an der Tür, die Arme vor seiner Brust verschränkt. Sein langes, schwarzes Haar hing ihm offen über die Schultern.

„Sie hat mich zu sich gerufen, um mir mitzuteilen, dass ich kein Mitglied ihrer Schule mehr bin. Ich muss das Anwesen bis morgen früh verlassen.“

Er ließ sich nicht anmerken, ob die Nachricht ihn überraschte. Nach einigen Herzschlägen trat er zu mir und strich eine Haarsträhne hinter mein Ohr, darauf bedacht, nicht meine Haut zu berühren. „Deine Eltern?“

„Sind auch nicht mehr an mir interessiert. Ich bin nun eine Freie Hexe.“ Der Gedanke ließ mich eigenartig fühlen. Die Entscheidung hatte zunächst geschmerzt, doch der Kummer war rasch verflogen. Zu viele Jahre hatte ich genau dieses Ereignis kommen sehen und mich innerlich darauf vorbereitet.

„Wie willst du zurechtkommen?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Wie immer. Ich lasse das Schicksal entscheiden.“

„Du brauchst einen Plan, Eire.“ Ein Hauch Ärger schwang in seiner Stimme mit. „Sonst bist du tot.“

„Das dachte ich auch all die Jahre davor. Bei jeder Veränderung war ich mir sicher: Eire, das war es nun. Das überlebst du nicht. Und doch ist es immer weitergegangen, weil das Leben anscheinend an mir hängt. Ich glaube, dass es auch weiterhin so bleibt.“ Ich lächelte ihn an.

Er seufzte. „Ich gebe dir ein paar Sachen mit. Zauber, mit denen du dich verteidigen kannst. Wann willst du gehen?“

„Noch heute. Wahrscheinlich gegen Nachmittag, wenn es noch hell ist.“

Er musterte mich für einige Sekunden, eine winzige Falte zwischen seinen dunklen Augenbrauen. „Ich packe dir etwas zusammen. Gib mir eine Stunde.“

„Danke dir, Sandi.“

„Darf ich dich zum Abschied umarmen?“

Nur er würde mich das fragen. Immer der beste Freund, den ich man sich wünschen könnte.

Ich spürte nach dem Zauber, den ich in meiner Jugend entdeckt und seither verfeinert hatte. Wie gewohnt umhüllte er mich mit seinem Schutz. Also nickte ich.

Ysanders Körper presste sich an meinen. Anders als meiner war er schlank und zierlich. In Kombination mit seinem fein geschnittenen Gesicht und der makellosen Haut strahlte er eine ätherische Schönheit aus – so überwältigend, dass sie nicht von dieser Welt schien.

In meinen Augen war er immer Ysander gewesen, der Junge, mit dem ich Freundschaft geschlossen hatte, nachdem in dieser Schule aufgenommen worden war. Keine geborenen Ghaulder sahen wir beide nicht nur anders aus, sondern wurden auch in ähnlicher Weise behandelt: wie ein störender Stein im Stiefel. Bei mir war die Ursache verständlich (für alle anderen außer mir zumindest). Die Abneigung gegenüber Ysander beruhte hingegen ausschließlich auf seine Herkunft: Denn er war ein Waisenkind, das vor den Toren der Ghaulder-Schule abgelegt worden war und seither dort lebte.

Zwei Ausgestoßene hatten zueinander gefunden und so fühlte sich seine Umarmung fast wie die eines Bruders an, der Geborgenheit und Trost zu spenden gedachte. Sicherheit, dass alles gut werden würde. Nur wenig später begann seine Berührung, auf meiner Haut zu kribbeln. Nach weiteren Sekunden verwandelte das Prickeln sich in einen unangenehmen Druck, der sich wie tausende Würmer in meine Haut grub und meine Adern anzufressen versuchte.

Die Grenze war erreicht. Ich klopfte auf seine Schultern und löste mich von ihm. „Danke, dass du immer für mich da warst. Bist, meine ich. Selbst jetzt noch hilfst du mir.“

Seine Augen waren pechschwarz. Ich machte einen Schritt zurück. Gefahr, flüsterte mein Instinkt. Ich hätte ihn nicht umarmen sollen.

Ysander schüttelte den Kopf und die Dunkelheit lichtete sich. „Eine Stunde, ja? Warte auf mich.“

Ich nickte und er war fort. Meine Hände strichen über meine Arme, wo sich Gänsehaut ausgebreitet hatte. Wie die anderen Hexen hatte er sich nach und nach verändert. Noch war er sicher. Noch wohlgesinnt. Aber sein Wesen konnte sich von einem Tag auf den nächsten verändern. Insbesondere wenn er sich der Stimme seiner Magie unterwarf.

Ich schob alle Gedanken an ihn und die nahe Zukunft beiseite und packte meine Sachen zusammen. Kleidung, dachte ich. Es war Sommer, somit brauchte ich keine aus Wolle. Wobei … Ich würde niemals wieder zu den Schulen zurückkehren und damit auch im Herbst und im Winter überleben müssen. Also doch warme Socken. Und genügend Unterwäsche, Wasserschläuche, eine Decke – oder zwei? – für den Boden und zum Zudecken wären sicherlich ebenfalls nützlich. Dazu noch ein Schal und ein zusätzliches Paar Schuhe. Ich könnte auch Bücher mitnehmen wie das eine über die Grundlagen der Pentagramme und Rituale, weil ich genau diese immer wieder vergaß. Die kompliziertesten und mächtigsten konnte ich dagegen auswendig. Ironisch, da ich sie niemals anwenden würde.

Ich hielt inne. Mein gesamtes Bett war mit Dingen übersät, meine Tasche dagegen noch leer.

Also gut, Eire. Entscheide dich. Was hat die höchste Priorität?

Ich war so damit beschäftigt, Ordnung in meine Gedanken (und meine Tasche) zu bringen, dass ich die Zeit vergaß. Irgendwann fielt mir ein, dass Ysander ja zurückkehren wollte. Weil bestimmt eine Stunde vergangen war, öffnete ich die Tür, um mich auf die Suche nach ihm zu machen, und erblickte ein Päckchen vor meinen Füßen. Ein Zettel lag dabei. Ich faltete ihn auf.

Verzeih. Etwas ist dazwischengekommen und ich hatte keine Zeit für einen langen Abschied. Das Wichtigste habe ich jedoch zusammengepackt. Behandle die schwarzen Zauber bitte mit Vorsicht, da sie nur für Notsituationen gedacht sind. Dein Gegner wird sie nicht überleben.

Pass auf dich auf. Wir werden uns wiedersehen, das verspreche ich. – Ysander

Ach, Ysander. Ich drückte seine Nachricht gegen meine Brust. Ich werde dich vermissen.

In dem Päckchen lagen Kugeln in unterschiedlichen Farben. Eine nach der anderen ergriff ich sie und untersuchte sie.

Unsichtbarkeit, falls mich niemand bemerken sollte.

Feuerregen, der meine Angreifer verbrennen würde.

Schutz, durch den selbst ein Werwolf meine Haut nicht aufschlitzen könnte.

Ich grinste. Er hatte noch ein paar andere zusammengepackt, die mir helfen würden und dabei weitaus mächtiger als meine eigenen waren.

Ich schüttelte sie in einen Beutel und band ihn an meinen Gürtel, damit sie immer griffbereit waren. Dann sah ich aus dem Fenster. Der Nachmittag war bereits angebrochen, der Abend aber noch ein paar Stunden entfernt.

Aus dem Bauch heraus entschied ich mich für Süden. Dort war es wenigstens warm und ich musste mich nicht um kalte Nächte scheren.

Ich nickte und gab mir selbst Mut. Du hast alles andere vorher überlebt, Eire. Was soll sich ändern?

Auf meinem Weg zum Ausgang sog ich ein letztes Mal die Eindrücke meiner Umgebung auf. Die steinernen Wände der Burg, Jahrhunderte alt und Hüter unzähliger Hexengeheimnisse, umgaben mich. Durch sie strich klare, kalte Luft, die mit Magie seiner Schüler geschwängert und einzigartig war. Nirgendwo anders würde ich sie atmen können. Die flackernden Lichter an den Wänden – durch Magie und keinem Feuert gespeist – spendeten Licht. Obschon es noch hell war, drangen nur wenige Sonnenstrahlen durch die grob ausgemeißelten Fenster in den Wänden.

Diese Eindrücke und Stille begleiteten mich nach draußen. Ein einzelnes Mädchen hetzte über den Hof und trug Bücher in ihren Händen. Sie war wohl zu spät für den Unterricht und der Lehrer würde sie dafür strafen. De Ghaulder liebten das Feuer, daher gab es wahrscheinlich die Strafe der brennenden Hand.

Ich verzog das Gesicht. Ich war häufig zu spät gewesen.

Als ich bei den südlichen Toren angekommen war, hielt ich inne. Eine Gestalt stand vor mir, rote Haare zu komplizierten Frisur getürmt, die Lippen in einem dunklen Rot bemalt und die Augen grün. Auf ihrer Schulter plusterte ihr Rabe seine Federn auf.

„Oberste Schwester? Was macht Ihr hier?“, fragte ich.

Ein Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte, antwortete mir. „Ich möchte mich verabschieden, bevor du gehst, und dir ebenso ein paar Ratschläge mit auf dem Weg geben, damit du überlebst. Denn unser Gespräch hat mich auf eine Idee gebracht: Wenn du ein Jahr überstehst, darfst du dich erneut bei uns vorstellen.“

Ich runzelte die Stirn. „Gebt Ihr mir eine zweite Chance?“

Sie nickte. „Sofern du bis dahin überlebst.“ Mit ihrem Arm deutete sie an, ihr zu folgen. „Komm. Lass uns in Ruhe reden.“

Gefahr. Ich kaute auf meiner Unterlippe. Bisher hatte ich sie als einigermaßen vertrauenswürdig eingeschätzt, indem ich nach dem Mantra lebte: Tu was sie sagt, verhalte dich geradeso unauffällig, dass sie kein Interesse an dir hat, und du bist sicher. Jetzt aber drängte alles in mir, ihre Aufforderung zu missachten und durch den Ausgang zu rennen. Weg von ihr.

Mein Instinkt lag immer richtig.

„Ich danke Euch, aber ich werde es sicherlich auch ohne weitere Hilfe schaffen. Man sieht es mir nicht an, aber ich bin zäh.“

Erneut ein Lächeln von ihr, angestrengter. „Du möchtest nicht noch einmal mit Ysander sprechen?“

Ah, war eine Audienz mit ihr das Wichtige, was dazwischengekommen war? „Gern würde ich mit ihm sprechen. Allerdings wüsste ich nicht, worüber. Wir haben uns bereits verabschiedet.“

„Ich habe ihn ebenfalls rausgeworfen.“

Sie hatte was?

„Er gehört zur Familie Maulden. Das ist unübersehbar. Nur weil wir Gnade bewiesen haben, als wir ihn aufnahmen, hat er keine geschützte Stellung. Auch er hat nachgelassen. Sein Potenzial als Hexe ist fraglich.“

Ich schüttelte den Kopf. Ysander und schwach? Ging es hier um etwas Persönliches? „Ysander ist der Einzige dieser Schule, der die mächtigsten Zauber beherrscht. Alle anderen sind daran gescheitert oder gestorben.“

Sie hob eine Schulter. „Bisher. Damit kann er nicht all seine anderen Schwächen ausgleichen. Ihr werdet gemeinsam gehen. Aber wenn du dich lieber allein auf den Weg machen willst, ist das deine Entscheidung.“ Sie wandte sich um.

„Nein, bitte wartet.“ Ich folgte ihr. „Lasst mich mit ihm sprechen.“

Die Oberste Schwester neigte den Kopf im selben Moment wie ihr Rabe. Gleich darauf führte sie mich zu einer Unterkunft, die sich nicht weit entfernt vom Tor befand. Wir gingen durch eine Tür, die Treppe hinunter und durch eine nächste, wo wir einem Flur folgen. Am Ende des Ganges öffnete sie eine weitere Tür.

Ich sah mich im Raum um. „Ysander?“

„Hier ist mein erster Ratschlag, Eire“, sagte die oberste Schwester hinter mir. „Vertraue nie einer Hexe.“

– 3 –

Eire

Ich wusste es.

Magie packte meinen Körper und drehte mich um, sodass die Oberste Schwester und ich uns ansahen. Ohne Eile trat sie zu mir, umschlang mit ihren Fingern meinen Hals und hob mich hoch.

„Warum?“ Ich wand mich in ihrem Griff, doch sie presste nur noch härter zu und drohte damit, mein Genick zu brechen. Blitze schlugen in mich ein, sowohl durch den Schmerz bedingt als auch durch ihre Berührung. „Warum … jetzt und nicht schon vorher?“

„Du hast dir die Frage bereits selbst beantwortet. Bist du doch nicht so schlau, wie du denkst?“ Sie grinste hämisch. Ihre Augen waren so schwarz wie ihr Rabe. „Ursprünglich wollte ich dich ziehen lassen. Aber meine Magie nagt an mir und will dich für sich beanspruchen. Warum ist das so? Ich will endlich Antworten, Eire. Wer bist du wirklich?“

Ich streckte meinen Nacken, um meinen Kehlkopf zu befreien und besser Luft zu bekommen. Nur ein paar Millimeter, doch es half. „Ich habe keine Ahnung, von was Ihr sprecht. Was sollte ich sein?“

Ihr heißer Atem fuhr mir ins Gesicht, als sie sich näher zu mir beugte. „Du hast einen Zauber auf dir. Interessant. Er ist mir noch nie zuvor aufgefallen. Was macht er?“ Der Fingernagel ihrer anderen Hand ritzte über meinen Hals, hinunter zu meinem Kleiderausschnitt. Ich spürte, wie mein Blut in Tropfen herausquoll, während ihre Berührung sich wie Säure in mich brannte.

„Schutz“, murmelte sie. „Aber ein ganz spezieller. Hmmm.“ Stoff zerriss und ihre Handfläche drückte sich auf mein Dekolleté. Schmerzhaft stöhnte ich auf. Zu viel. Zu stark. Noch nie zuvor hatte jemand so Mächtiges mich angefasst. Mein Zauber fiel Stück für Stück in sich zusammen.

Die Augen der Obersten Schwester rissen sich auf. „Was ist das?“ Ihre Finger taten weh, so weh, obwohl sie sich nur auf meine Haut pressten. Es fühlte sich so an, als würden sie tiefer in meinen Körper sinken, durch meine Brust und Rippen bis zu meinem Herzen hindurch. Mein Blut kochte. Schweiß brach an meinem Körper aus.

„Tanaide’e“, hauchte sie schließlich, Ehrfurcht in ihrer Stimme.

„Lasst … mich …los!“, krächzte ich, die Anwesenheit der Hexe in mir unerträglich.

Ihre Magie lechzte nach meiner Kraft, meinem Wesen – alles, was ich war. Schmerz, wie ich ihn nie zuvor erfahren hatte, selbst nicht bei der Familie De Primlen, übernahm meinen Körper. Ich wurde ausgesaugt, durchfuhr es mich. Sie wollte meine Seele stehlen.

Die oberste Hexe lachte verzückt. „Du bist eine Tanaide’e! Wie konnte das allen entgehen? Wie konnten wir so blind sein? Du hast uns hinters Licht geführt. Schlaue, schlaue Hexe.“

Unzählige Gedanken jagten durch meinen Kopf. Tanaide’e. Was war das? Erinnere dich, Eire, erinnere dich!

Keine Zeit dafür!

Trotz der Qualen, die die Hexe mir bereitete, schaffte ich es, in Ysanders Beutel zu greifen. Meine Finger zuckten hektisch über die Kugeln. Da! Das musste eine schwarze sein. Der Zauber fühlte sich jedenfalls dunkel und tödlich an. Ich zerbrach die Kugel und schlug ihr die Masse ins Gesicht.

Kreischend ließ sie mich fallen. Ihr Rabe gab einen ähnlichen Laut von sich und fiel zu Boden. „Beim Mond! Was hast du …“ Ihre Frage ging in einem erneuten Kreischen unter.

Kaum bei Atem versuchte ich mich auf die Beine zu stemmen. Fiel um. Ein weiterer Versuch. Endlich schaffte ich es und stürzte halb laufend, halb kriechend zur Tür, in meinen Ohren ihre grässlichen Schreie. Ein Todeszauber. Danke, Ysander!

Mit klammen Händen öffnete ich die Tür und eilte weiter. Der Zauber war zwar stark gewesen, würde jedoch niemals die Oberste Schwester aufhalten. Ich musste so schnell wie möglich fliehen.

Nach einer unendlichen langen Minute gelangte ich zurück zum Ausgang und stürzte weiter zu den Toren. Zu meinem Glück befanden sich noch immer wenige Menschen außerhalb der Mauern, nur vereinzelt trafen mich Augenpaare. Niemand wusste, was passiert war. Noch war ich in Sicherheit.

Als ich das Tor passiert, wurde ich durch eine Explosion nach vorn geworfen. Ich hielt mir den Kopf, sah die Welt schwanken, hörte Brüllen, Kreischen. Darunter die Stimme der Obersten Schwester. Sie hatte den Zauber besiegt.

Erneut rappelte ich mich auf und kramte nach dem nächsten Zauber.

„Hinterher!“, rief ihre zornige Stimme. „Bringt sie mir! Bringt mir die verfluchte Hexe!

Knack. Unsichtbarkeit. Ich huschte über den erdigen Pfad. Fußabdrücke, dachte ich, und änderte die Richtung, hinein in den Wald, wo sie schwieriger auszumachen waren. Hinter mir hörte ich meine Verfolger. Hexen, die ihre Magie nach mir aussandten und die Verfolgung aufnahmen, jede Spur von mir wittern würden.

Meine Beine waren schwer wie Blei, mein Kopf hohl und meine Augen brannten. Erschöpfung. Als würde ich kurz vor einem Zusammenbruch stehen. Zwar war mein Körper langsamer als andere, behäbiger, trotzdem wusste ich, dass das nicht normal war. Irgendetwas hatte die Oberste Schwester mit mir gemacht.

Rauchgeruch stieg zu meiner Nase auf. Mist, wollten sie den Wald abfackeln, um mich herauszutreiben?

Adrenalin ließ mich weiter voranpreschen. Alle Gedanken in mir erstarben und wurden durch Wortfetzen ersetzt. Ich konnte nicht sagen, wie ich vorangelangte, wo genau ich mich befand, wer mir nachsetzte. Bei einem Fluss brach ich schließlich zusammen. Meine Lungen wollten bersten und Kopfschmerzen hämmerten hinter meiner Stirn.

Krah.

Ich hob den Kopf. Vor mir saß ein Rabe auf einem Ast. Sein Kopf zuckte zur einen, dann zur anderen Seite. Sah er mich?

Krah.

Ein weiterer flog auf einen Baum gegenüber.

Krah. Krah. Krah.

Sie waren nun überall und umkreisten mich. Boten der Obersten Schwester, durchfuhr es mich. Sie arbeiteten für sie und waren wie ihr Haustier durch Magie mit ihr verbunden.

Einer von ihnen stürzte sich auf den Boden und verfehlte mich nur knapp. Ein anderer folgte ihm, wieder haarscharf an mir vorbei. Der dritte traf mich am Arm und ich stieß zischend Luft aus. Blut spitzte auf den Boden. Die Raben flatterten mit ihren Flügeln, als freuten sie sich, gackerten auf ihre unheimliche Art und Weise.

Gefunden. Gefunden. Gefunden.

Keine andere Möglichkeit in Sicht, krallte ich meine Arme um meine Tasche und sprang in den Fluss. Bring mich weg von hier! Er tat, was ich wollte, und doch schien er ebenso gegen mich zu sein, drückte mich in seinen Abgrund, schleuderte mich gegen Baumstämme und Steine und versuchte, mich in seinem Strudel zu ertränken. Sobald ich Luft schnappte, hörte ich über mir die Raben krähen. Ihr schwarzer Schwarm verdunkelte den Himmel. Und doch hatte ich durch die Wildheit des Flusses einen Vorteil, weil sie meine unsichtbare Form niemals genau ausmachen könnten.

Als ich bei einer Gabelung des Flusses ankam, tauchte ich unter und kämpfte mit Armen und Beinen darum, den schmalen Weg zu nehmen. Ich musste mich im Bernsteinfluss befinden und dadurch würde ich zur Goldhöhle gelangen, die höhere Sicherheit versprach. Aber die Tasche … die verdammte Tasche …

Kurzerhand ließ ich sie los und strampelte wie eine Irre, noch immer unter Wasser. All meine Sachen, meine Vergangenheit, schwammen davon. Aber keine Zeit, darüber nachzudenken. Ich tauchte wieder auf und atmete auf. Felsen erhoben sich um mich herum. Zur gleichen Zeit nahm die Stärke der Strömung ab und ich konnte Kraft sammeln – auch wenn ich mich lieber hinlegen und schlafen würde.

Ich ließ mich treiben und nahm nur vage wahr, wie ich hier und da an Steinen anstieß, die meine Haut aufkratzten und mir weitere blaue Flecke zufügten. Erst als das Rauschen an Lautstärke zunahm, machte ich mich für den nächsten Abschnitt bereit.

Drei Abzweigungen. Drei Wege. Drei finstere Höhlengänge direkt vor mir.

Wenig Risiko. Hohes Risiko. Todesfalle.

Meine Augen zuckten über die Höhelausgänge. Hin und zurück. Zum ersten, zum zweiten, wieder zum ersten. Es war mein Instinkt, der entschied.

Und mein Instinkt wollte anscheinend nicht mehr leben.

Ich schlüpfte in die Dunkelheit der Todesfalle. Übertrieben, dachte ich. Man konnte überleben.

Wenn man den Sturz aus dem Wasserfall überlebte, der in ein paar Metern folgte.

Gleichzeitig würde der Fluss mich weit weg von den Hexen tragen. Tief ins Landesinnere der Wölfe und ihren Clans. Hier hätte ich höhere Chancen, meinen Verfolgern zu entkommen.

Wobei ich direkt in die Fänge blutrünstiger Tiere flüchten würde.

Vergiss die Furcht vor dem Unbekannten, Eire! Damit befassen wir uns später!

Ich schwamm durch die Dunkelheit, folgte der Lichtkugel in der Ferne und legte all meine Hoffnung in die nächsten Sekunden. So viel hast du überlebt. So viel überstanden.

Beim Mond, das würde sich heute nicht ändern!

Ich schloss die Augen, als ich nach unten fiel.

***

Nach Luft schnappend krallte ich meine Fingernägel in die Erde und zog mich nach vorn. Einen Zentimeter. Zwei. Drei. Mein eigenes, hektisches Atmen erfüllte dabei meine Ohren, kein Krähen oder Flattern von Flügeln.

Ich drückte mich in Büsche hinein, die entlang des Flussufers wuchsen, während schwarze Blitze vor meinen Augen zuckten. Ohnmacht lauerte mir auf.

Noch nicht. Musste weiter.

Ich schaffte es, mich hochzustemmen, zumindest auf die Knie, und kroch vorwärts. Über mir dämmerte der Himmel im Abendrot, also war ich einige Zeit im Fluss getrieben. Seltsam, wie ich nichts davon mitbekommen hatte. Alles hatte wie in einem Traum gewirkt, obwohl ich bei Bewusstsein gewesen war.

Entgegen meinen geringen Überlebenschancen war mir eine Flucht gelungen. Nun musste ich ein Versteck finden. Danach würde ich weiter planen.

Ich kämpfte mich weiter durch die Büsche, über Laub, Gras, Stöcke, Wurzeln. Wieder war ich in einen Wald geraten. Aber er bot den meisten Schutz. Wenn ich eine Höhle finden würde, könnte ich mich dort zurückziehen.

Ich stoppte, weil ich kurz davor war, umzukippen. So konnte das nicht weitergehen. Wenn du dich retten willst, musst du dich um deinen Körper kümmern, Eire.

In mir spürend versuchte ich, meine Magie anzustupsen, damit sie die Heilung beschleunigte. Doch statt ihrer Präsenz fand ich nichts.

Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich weiß, du bist schwach. Kümmerlich, wie andere sagen. Aber du existierst doch, also mach endlich, was ich von dir verlange!

Nichts.

Panik überkam mich. Beim Mond, hatte sie mich nun endgültig verlassen?

Keine Zeit. Meine Hand suchte meinen Gürtel ab, ertastete Leder. Das Glück war auf meiner Seite, denn das Wasser hatte zwar meinen gesamten Besitz geraubt, nicht jedoch meinen Beutel mit Ysanders Zaubern.

Ich brauchte Heilung. Die Kugel zerdrückt klatsche ich sie auf meine nackte Haut. Wärme durchströmte mich und gab mir Kraft. Meine Muskeln erstarkten und meine Wunden schlossen sich.

Ich atmete aus. Wenigstens das funktionierte. Also weiter. Weiter, Eire!

Leider hatte der Zauber nicht vermocht, die bleierne Müdigkeit, die unendliche Erschöpfung, vor mir zu nehmen. Die Oberste Schwester musste wahrlich etwas Dunkles mit mir angestellt haben.

Tanaide’e.

Das Wort kam mir bekannt vor. Irgendwann einmal hatte ich darüber gelesen.

Gedanken überschlugen sich, lösten sich auf, waren nicht greifbar. Wenn ich ein Versteck gefunden hatte, könnte ich mich mit diesem Rätsel beschäftigen.

Meine Arme sackten unter mir zusammen und ich knallte mit der Wange auf die nackte Erde. Wurzeln. Ich rollte mich unter die Erhöhung neben mir. Kein Versteck, aber zumindest lag ich nicht für alle sichtbar auf den Boden.

Nur kurz die Augen ausruhen, dachte ich. Nur damit ich wieder klarer denken konnte.

Ich verlor das Bewusstsein.

***

Mein Hinterkopf schlug auf den Boden auf und ich öffnete meine Lider. Wo war ich? Noch ein Schlag, Schmerz an meinen Armen und Rücken. Die Ohnmacht noch ein Geist, der in meinen Gedanken spukte, hatte ich Mühe damit, mich in der Wirklichkeit zurechtzufinden. Erst viel zu spät erkannte ich, was geschah.

Ich wurde über die Erde geschliffen.

Meine Augen zuckten zur Gestalt, die meine Fußknöchel in einer Hand hielt und mich hinter sich herzerrte. Ihr Rücken war von Fell bedeckt, die Schultern breiter als der Unterkörper. Spitze Ohren zuckten im Mondlicht.

Werwolf.

Was hast du eigentlich gegen mich, Schicksal?

Meine Glieder ließen sich nicht bewegen und hinter meiner Stirn dröhnte es wie nach einer schlaflosen Nacht voller Wein. Mir war heiß und kalt zugleich. Fieber? Magie sei mir gnädig, jetzt war ich auch noch krank geworden.

Der Werwolf hatte nicht bemerkt, dass ich erwacht war. Ohne innezuhalten, zog und zog er mich über den Waldboden. Als er endlich anhielt, hoffte ich, eine Gelegenheit zur Flucht zu erhalten. Vielleicht schaffte ich es, zur Seite zu rollen, den Abhang hinunter und … ja, was dann? Ich konnte nicht einmal einen Finger bewegen. Was für ein bescheuerter Plan.

Der Wolf ließ meine Beine fallen und knurrte. Sein Kopf ruckte zur einen, dann zur anderen Seite. In meinem deliriumartigen Zustand hörte ich erst zu spät die Geräusche, die ihn zum Anhalten bewogen hatten. Rascheln. Atmen.

Knurren.

Eine Sekunde später sprang ein zweiter Werwolf hinter den Bäumen hervor, direkt auf meinen Entführer zu. Beide waren riesige, monströse Gestalten, die mit ihren Zähnen fletschten, ihre Mäuler zum Jaulen aufrissen und ihre Klauen nach dem anderen schlugen. Sie bewegten sich auf zwei Beinen und bissen einander, brüllten, wodurch meine Ohren klirrten.

Die passende Gelegenheit war gekommen.

Also komm schon, Körper. Beweg dich!

Wie meine Magie gehorchte er mir nicht mehr. Selbst mein dummes Herz schien sein eigenes Ding zu machen, trommelte für einige Atemzüge heftig und erlahmte anschließend beinahe bis zum Stillstand. Chaos schien ihn befallen zu haben.

Meine gesamte Energie richtete sich auf meine Finger, der Beutel mit den Zaubern so nahe und doch so fern. Plötzlich fauchte ein Wolf und ich spürte einen scharfen Schmerz an meinen Beinen. Er versuchte, mich zu sich ziehen, erkannte ich furchterfüllt. Das andere Monster attackierte ihn jedoch und riss ihn von mir. Warmes Blut rann meiner Haut hinab.

Auf diese Weise ging es weiter: Sie rangen miteinander, einer gewann die Oberhand, packte meinen Leib, nur, um wieder von dem anderen in einem Kampf verwickelt zu werden. Und ich konnte nur dort liegen und nichts tun.

Als es schließlich still wurde, spannte ich mich an.

Einer von ihnen hatte gewonnen.

Eine Schnauze schob sich in mein Sichtfeld. Heißer Speichel tropfte in mein Gesicht. Das Monster leckte sich die Lefzen und kratze mit seinen Krallen über meine Haut. Ein gequältes Stöhnen entwich mir. Es würde mich auffressen. Einfach auffressen.

Er schob meinen Rock hoch. Neben meinem Körper bewegten sich endlich meine Finger. Beutel, Beutel, lass dich öffnen!

Doch erneut hinterging mein Körper mich. Das Hämmern in meinem Kopf war nicht mehr auszuhalten, mein Herz wurde immer langsamer und langsamer. Als das Monster über meine Wange leckte, wurde mir schwarz vor Augen und die letzten Eindrücke meines Bewusstseins mischten sich zu einem wirren Durcheinander zusammen:

Knurren. Geruch nach Feuer und Rauch. Lange, lange Stille. Berührung an meinem Hals, die nicht wehtat. Meine eigene Stimme. Du wirst mir helfen, ja? Augen, denen ich vertraute. Wärme, die mich umgab. Mit der Gewissheit, dass das Schicksal doch gnädig zu mir war, gab ich mich der Bewusstlosigkeit hin.